Ich komme also wieder auf das Kapitel von Dogen zu sprechen. Ich werde dann aus dem Originaltext etwas vorlesen. Der Kommentator schreibt etwas dazu, das ich einleitend lese:
.Karl Obermayer Karwochen-Sesshin 2011
Dogen behandelt im Verlauf des Kapitels die wichtigsten Fragen zum Zazen und zum Buddha-Dharma in Form eines Gesprächs mit einem kundigen, aber durchaus kritischen Partner und grenzt Zazen als Streben nach der Wahrheit von falschen oder unklaren Lehrmeinungen ab. Er vertieft dabei dessen wahre Bedeutung und Kraft, die er nach langer, ausdauernder Suche in China durch seinen eigenen Meister, Tendo Nyojo, selbst erlernt und erfahren hatte.
Das zum besseren Verständnis, weil ich hier eine Passage aus dem Originaltext lese, die eine Frage beinhaltet. Die folgenden Sätze führen zu dieser Frage hin:
Die wunderbare Methode des Tathagata richtig zu empfangen und in die Fußspuren der alten Patriarchen zu treten, ist wahrhaftig etwas, das über das Denken normaler Menschen hinausgeht. Das Lesen der Sutren und das Rezitieren von Buddhas Namen ist aber Ursache und Bedingung des Großen Erwachens. Wie kann man nur durch müßiges Sitzen und ohne irgendeine Tätigkeit das Erwachen erlangen?
Dies ist also die Frage. Die Antwort lautet:
Wenn ihr nun glaubt, dass der Samadhi aller Buddhas, der große, unübertroffene Dharma, nur müßiges Sitzen in Untätigkeit ist, dann sei ihr jemand, der den Mahayana herabsetzt. Die Wurzel einer solchen Unwissenheit liegt tief. Es ist das Gleiche, als ob jemand, der im Ozean schwimmt, behauptet, dass es kein Wasser gibt. Beim Zazen sitzen wir schon gefestigt und dankbar im Samadhi der Buddhas, in dem sich das Selbst empfängt und sich erfährt. Dies ist nicht das universelle und große Tun eines Buddhas – wie schade, dass eure Augen noch nicht offen sind und euer Geist unklar ist! Kennt ihr irgendein Verdienst, das mit Übungen wie dem Lesen der Sutren und dem Rezitieren von Buddhas Namen erworben werden kann? Es macht mich traurig zu denken, dass nur das Bewegen der Zungen und das Erheben der Stimme die Wirkung einer Buddha-Tat haben soll. Vom Buddha-Dharma sind diese Übungen weit entfernt.
Außerdem lesen wir die Sutren, um die Maßstäbe der Praxis für das plötzliche und allmähliche Erwachen, die der Buddha lehrte, zu verstehen. Jene, die der Lehre entsprechend üben, werden auf jeden Fall in den Bereich der direkten Erfahrung der Wirklichkeit eintreten. Dies ist etwas völlig anderes, als zu versuchen, die Wahrheit durch Übungen zu erlangen, die sich auf den Verstand und die Einbildung stützen. Wer glaubt, Buddhaschaft allein damit zu erlangen, dass der Mund tausende und abertausende Male dasselbe rezitiert, ist wie jemand, der hofft, mit einem nach Norden fahrenden Wagen in das südliche Land Etsu zu kommen oder meint, dass er einen viereckigen Dübel in ein rundes Loch einführen kann. Wenn jemand nur Sätze rezitiert und keine Klarheit über den Weg der Übungspraxis hat, ist es dasselbe, wie wenn jemand Medizin studiert, aber vergessen hat, wie man die Arznei anwendet. Welchen Nutzen hätte dies? Jene, die endlos rezitieren, sind wie Frösche, die im Frühling im Reisfeld sitzen und von früh bis spät quaken. Letztlich ist dies alles sinnlos. Noch schwerer ist es für Menschen, sich von diesem Irrtum zu befreien, wenn sie an Ruhm und Gewinn haften. Weil der nach Profit jagende Geist so tief in den Menschen verwurzelt ist, gab es ihn schon seit jeher. Wie könnte dieser Geist heute nicht vorhanden sein? Es ist bedauerlich. Was ihr vor allem begreifen müsst, ist dies: Wenn der Schüler einem Meister folgt, der selbst die Wahrheit erlangt und den Geist geklärt hat, und der Schüler sich mit diesem Geist vereinigt, ihn erlangt und intuitiv versteht, dann zeigt sich der wunderbare Dharma der sieben alten Buddhas. Er zeigt sich unmittelbar und wird so bewahrt. Dies geht weit über das Verständnis der Dharma-Lehre hinaus, die nur Worte studiert. Beendet also den Zweifel und die Täuschungen. Folgt der Lehre eines wahren Meisters, erlebt und vollendet den Samadhi der Buddhas durch den Weg der Praxis des Zazen, in dem sich das Selbst empfängt und sich erfährt.
Soweit dieser Ausschnitt aus dem Originaltext von Dogen. In der Folge kommen wieder einige Fragen, die er beantwortet, wo die verschiedenen Schulen, die sich in der Zwischenzeit entwickelt haben, andere Schwerpunkte setzen. Da werde ich natürlich nicht alles bringen können und wollen. Es geht immer wieder darum, dass er die Einseitigkeit so mancher Schulen aufzeigt oder kritisiert und dass er immer wieder auf dasselbe zurückkommt, was das Thema dieses ganzen Kapitels ist: Wie wichtig die Praxis des Zazen ist.
Und ich finde auch, dass Dogen hier originelle Vergleiche bringt. Der mit den Fröschen, die den ganzen Tag quaken, hat mich sehr angesprochen. Das ist es also nicht. Es erinnert mich auch an einen Ausspruch von meinem Meister Nagaya, den ich schon oft zitiert habe, der gesagt hat: „Wenn man nur Bücher über Zen liest, ist das noch kein wirkliches Zen, das ist Buchstaben-Zen. Und wenn man nur darüber spricht, dann ist das Zungenspitzen-Zen“. Also, da hat er auch das Bewegen der Zunge, das Erheben der Stimme erwähnt, dass man meint, das sei schon das Wichtigste oder Alles. Und ohne einzelne Titel direkt zu nennen, hat er auch manche Literatur über Zen kritisch betrachtet und gesagt, viele Bücher, die über Zen erschienen sind, haben die Autoren nur abgeschrieben und tun so, als ob es eigene Erfahrung wäre. Es geht also um die eigene Erfahrung und nicht um das Nachplappern von Dingen, die andere vielleicht erfahren haben und dann irgendwie zum Ausdruck bringen, weil man letztlich nicht befriedigend formulieren kann, worum es geht.
Das ist ein Thema bei allen Mystikern, die sagen, die Sprache sei zu begrenzt, um eine solche Tiefenerfahrung adäquat ausdrücken zu können. Sie versuchen dennoch, „das Unsagbare zur Sprache zu bringen“, wie dies manchmal bezeichnet wird. Aber es heißt dann meistens, dass man es nur umschreiben kann. So auch zum Beispiel in der Schrift „Wolke des Nichtwissens“ eines englischen Mystikers aus dem 14. Jahrhundert, in der es u.a. heißt: „Was es ist, können wir nicht sagen. Wir können es nur umschreiben“.
Ohne Praxis ist die Sache eben nur etwas Formales, nur etwas, was das Nachdenken anstrengt und vielleicht irgendwie interessant ist, das mag schon sein. Aber entscheidend ist Praxis zu üben. Es gibt verschiedene Vergleiche, die das ganz gut treffen. So wird manchmal gesagt: Das Lesen über Zen ist, wie wenn man eine Speisekarte liest – davon wird man nicht satt. Man kann sie lesen, der Unterschied ist aber, wenn man die Speisen auch wirklich selber isst. So finden sich immer wieder Vergleiche, die zeigen sollen, dass es um die Praxis, um die eigene Erfahrung geht. Ein Bild, das Nagaya gern verwendet hat, ist: „ Wenn du das Wort Feuer liest, da ist noch nichts heiß. Wenn du ins Feuer greifst, dann weißt du, was heiß ist!“ Er hat das auch variiert, manchmal hat er von Zucker gesprochen, dass man den schmecken muss. Man kann natürlich beschreiben, wie Zucker schmeckt, aber es ist ein Unterschied, ob du nur eine Beschreibung darüber liest, oder ob du ihn kostest.
Daher also der „Succus“ all dieser Gedanken zu dem Thema BENDOWA, unserem diesjährigen Motto – alle Gedanke gehen immer in diese Richtung: dass es wichtig ist, die eigene Erfahrung in der Praxis zu machen und dabei beharrlich zu bleiben. So ist es auch mit dem Vertrauen: Auch wenn man, wie wir gestern gesagt haben, keinen sichtbaren Erfolg verzeichnen kann, vertrauen wir doch darauf, dass es ein guter Weg ist, den wir gehen. Natürlich, auch Dogen schließt nicht aus, dass man etwas von anderen lernen kann oder aus dem, was andere niedergeschrieben haben. Er selbst hat ja auch niedergeschrieben, damit es spätere Generationen lesen können und die wahre Praxis schätzen lernen. Oft ist es auch so, wie mir viele bestätigt haben, und ich selbst habe es auch erfahren: Wenn man in eigener Praxis schon einige Zeit konsequent übt und dann etwas liest, dann findet man sich darin wieder und hat das Gefühl: Ja, das ist gut gesagt, das kann ich gut verstehen. Ich wäre wahrscheinlich nicht fähig gewesen, es so zu formulieren, aber ich kann dem zustimmen. Ich kann darin eine Bestätigung meiner Praxis finden und auch einen Impuls, diesen Weg weiterzugehen. Daher soll das nicht gänzlich ausgeklammert werden, dass man etwas liest oder sich mit einem Text auseinandersetzt, keineswegs. Aber der Vorrang gilt nach Dogen der eigenen Praxis. Abschließend noch einen Satz aus dem Kommentar von Meister Seggelke dazu:
Theoretisches Wissen, Gelehrsamkeit sind, so Dogen, zwar nützlich, aber nicht ausreichend, um diese große Wahrheit zu erfahren. Diese steht Klugen und Dummen gleichermaßen offen und ist nach Dogen untrennbar mit der Übungspraxis des Zazen verbunden.
Also, da haben wir auch noch Chancen …