4. Teisho – Einheit von Körper und Geist (Karl Obermayer)

Wie wir dieser Tage wiederholt gesagt haben: Das erste Kapitel des SHOBOGENZO, BENDOWA, beginnt damit, dass Dogen schreibt, wie er selbst auf der Suche war und wie er in China bei seinem Meister, den er dort gefunden hat, zu diesem Erwachen gekommen ist. Nach seiner Rückkehr beschloss er, diese wahre Erkenntnis weiterzugeben, Vorträge zu halten und es niederzuschreiben. Und wir haben uns schon einiges aus diesem Kapitel angesehen. Im Weiteren ist der Text in Frage und Antwort gegliedert. Ich komme da heute zu einem Thema, das natürlich ein sehr wichtiges ist und gerade jetzt in diese Woche passt, da es sich mit Leben und Tod auseinandersetzt.


.Karl Obermayer Karwochen-Sesshin 2011

Zunächst kommt also dieser Fragesteller zu Wort:

Es heißt, wir sollen unser Leben und Sterben nicht bedauern, denn es gebe einen raschen Weg, sich von Leben und Tod zu befreien. Man müsse nur die Wahrheit erkennen, dass die Essenz unseres Geistes ewig sei. Das bedeutet, dass dieser physische Körper, der geboren wird, unausweichlich dem Tod entgegen gehe, aber die Geist-Essenz niemals sterben werde. Dies zu wissen bedeutet, sich von Leben und Tod zu befreien.

Antwort:

Was ihr gerade formuliert habt, ist niemals Buddhas Lehre. Es ist die Sicht des Brachmanen Senika. Nach dieser Lehre, die nicht zum Buddhismus gehört, wohnt in unserem Körper ein spirituelles Bewusstsein. Wenn dieser Körper stirbt, streift das Bewusstsein die Haut ab und wird in einer anderen Welt wiedergeboren. Wenn deshalb hier das Bewusstsein auch zu sterben scheint, lebt es dort weiter. Daher nennen wir es unsterblich und ewig. Dies ist nicht die Sicht eines Buddhisten. Ich kann nicht umhin, euch aus tiefem Mitgefühl vor diesem Irrtum zu bewahren.

Ihr müsst wissen, in der Buddha-Lehre sind Körper und Geist immer eine unteilbare Wirklichkeit. Deshalb wurde das Prinzip der Einheit von Wesen und Form sowohl in Indien als auch in China anerkannt. Wir sollten uns nicht anmaßen, das Gegenteil zu behaupten. Ferner haben alle Dharmas in den Schulen des Buddhismus, die die ewige Existenz lehren, die Eigenschaft, immer zu existieren. Körper und Geist werden dort nicht getrennt. Das Prinzip, dass Körper und Geist eine unteilbare Wirklichkeit sind, wurde im Buddha-Dharma immer schon gelehrt. Wie könnte es sein, dass der Körper entsteht und vergeht, während der Geist weder entsteht noch vergeht?

Denkt daran, die Schule des wahren Dharma sagt, dass im Buddha-Dharma das Wesen des Geistes eins mit allen Formen ist. Darin wird die eine große Dharma-Welt einbezogen. Wesen und Form werden nicht getrennt und über Entstehen und Vergehen werden keine Diskussionen angestellt. Es gibt keine Daseinsform, nicht einmal Bodhi oder Nirwana, die nicht selbst dieser Geist wäre. Alle Dharmas, die zehntausend Phänomene und die Ansammlung von Dingen sind alle ausnahmslos nur dieser eine, ungeteilte Geist. Die verschiedenen Dharma-Schulen bestehen alle darauf, dass alle Daseinsformen nichts anderes als dieser ausgewogene, eine und ungeteilte Geist sind. Daneben gibt es nichts anderes. Wir Buddhisten begreifen das Wesen des Geistes auf diese Weise. Warum sollten wir denn diese eine Wirklichkeit aufspalten in Körper und Geist, in Leben und Tod oder Nirwana?

Soweit aus dem Originaltext des Meister Dogen. Wir kennen diese Formulierung auch aus dem Hannya Shingyo – Leere und Form, alles kommt aus der Leere. Diese Leere manifestiert sich in jeder Form, und ohne Leere gibt es keine Form, ohne Form keine Leere, da kann man ja auch endlos Formulierungen finden. Jedenfalls legt er Wert darauf, dass Körper und Geist oder Leib und Bewusstsein – dafür gibt es verschiedene Formulierungen – eine untrennbare Einheit darstellen.

Wenn er dann von dem einen Geist schreibt, der sich in allem manifestiert, darf man nicht durcheinander kommen mit den Begriffen. Das ist eben Sunyata, diese Einheit, diese Leere. Und der Mensch ist eben auch eins, eine Einheit der leiblichen und geistigen Komponente, die nicht trennbar ist. Das gilt auch für das Zazen, das ist ja das Hauptanliegen dieses Kapitels: Für das Zazen ist das so, dass man nicht sagen kann, nur die Körperhaltung ist wichtig oder nur die geistige Einstellung ist wichtig. Es gehört alles zusammen. Und gerade durch dieses Sitzen, so heißt es hier immer wieder, sollen Körper und Geist in Harmonie kommen. Diese Einheit wird betont, und er ist der Überzeugung, dass auch im Tod diese Einheit bestehen bleibt.

In unserem Denken war es ursprünglich auch so. Im jüdischen Denken und im Denken der Bibel ist der Mensch eine Einheit. Es gibt nicht die Trennung von Körper und Geist, und wenn von Auferstehung die Rede ist, dann ist immer eine Auferstehung des ganzen Menschen gemeint. Es ist also nicht vorstellbar, dass irgendeine Seele, die irgendwo herumschwirrt, sich ein paar Knochen zusammensucht und einen neuer Körper bildet, sondern es bleibt der Bezug zum Leib, auch wenn es dann eine andere Daseinsform sein mag.

Diese Trennung im Denken ist eigentlich erst durch den Hellenismus, durch das griechische Denken gekommen. Das hat sich in den ersten Jahrhunderten etabliert, und dann hat man vor allem auch  bewertet: Das Geistige als hochwertig und das Körperliche, Leibliche als minderwertig, so dass es dann zu Formulierungen gekommen ist wie „der Körper ist der Kerker der Seele“, eine Haltung, die sich teilweise bis heute in christlichen Auffassungen gehalten hat. Auch mit der Beschäftigung mit östlichem Denken sind wir wieder auf das zurückgekommen, was hier auch Dogen so sehr betont: Dass der Mensch eine Einheit ist, dass das Bewusstsein, das geistige Element sozusagen, immer in einem Bezug zum Leiblichen und in einem Bezug zur Weltwirklichkeit steht und nicht davon getrennt werden kann. Auch heutige Theologen sind vielfach der Auffassung, dass der Tod des Menschen ein ganzheitlicher Tod ist, die Auferstehung eine ganzheitliche Auferstehung. Also nicht, dass da irgendwas getrennt wird, dass irgendein Seelchen davonschwebt und herumgeistert, vielleicht irgendwo spukt und dann wieder zu einem Leib kommt. Diese Auffassung ist heute nicht mehr die gängige, wie es durch viele Jahrhunderte der Fall war.

Das sind natürlich letztlich alles Spekulationen. Man muss sich wohl ehrlich eingestehen, dass man nicht genau sagen kann, wie sich das verhält. Im Zen ist man überhaupt sehr nüchtern in dieser Beziehung. Die Anekdote, die ich in dem Zusammenhang gerne erwähne, ist ein Gespräch zwischen dem chinesischen Kaiser Gyozei und dem Zen-Meister Gudo, der bei ihm am Hof war.

Er fragt ihn: „Wohin geht der erleuchtete Mensch, wenn er stirbt?“, und Gudo sagt darauf: „Ich weiß es nicht.“ Der Kaiser ist natürlich enttäuscht und fragt sich: „Wozu füttere ich dich hier durch? Du bist ein anerkannter Zen-Meister, warum weißt du das nicht?“ Und er sagt darauf schlicht: „Weil ich noch nicht gestorben bin.“ … Dann werden wir also weitersehen, da kann ich noch keine bindende Aussage machen.

Natürlich beschäftigt diese Frage die Menschen immer wieder, immer wieder von neuem, und viele Gedanken wurden im Lauf der Menschheitsgeschichte in den Kulturen, in den Religionen, in den Philosophien, in den Weltanschauungsfragen dazu geäußert. Aber man kann hier wahrscheinlich nie eine hundertprozentige Aussage machen. Jedenfalls, das eine ist dem Dogen wichtig, und das ist auch für unsere Praxis wichtig, dass der Mensch eine Einheit ist mit einer leiblichen, körperlichen und geistigen Komponente, die untrennbar miteinander verquickt sind. Man kann das also nicht voneinander trennen.

Abschließend und vielleicht zusammenfassend zu diesem Thema noch ein Abschnitt aus dem Kommentar zu dieser Frage:

Die indische Vorstellung des Brahmanismus von einer ewigen, konstanten Seelen-Essenz, die bei der Wiedergeburt von einem Körper zum anderen wandert, bis sie den Kreislauf dieser Welt vollendet hat und in das ewige Nirwana eingeht, ist laut Dogen unrichtig. Er grenzt die Zazen-Praxis von dieser idealistischen Vorstellung ab und macht noch einmal deutlich, dass derartige Träume und Wunschvorstellungen von der Wahrheit weg führen, und wir so nicht in der Lage sind, das eigene Leiden zu überwinden. Im Hier und Jetzt gibt es eine mystische Einheit, in der Körper und Geist in sich selbst, mit der Welt und mit dem Universum eine untrennbare Einheit bilden. Daher ist die Vorstellung einer isolierten Seelen-Essenz im Buddhismus nicht haltbar und führt, wie er feststellt, auf Abwege. Weiterhin gewinnt die Idee eines zukünftigen Lebens mit einer neuen Inkarnation des konstanten Seelenkerns und das letztendliche Eingehen in das Nirwana mit der buddhistischen Erfahrung der wahren Sein-Zeit im gegenwärtigen Augenblick eine neue Bedeutung. Dies sei eine Produktion des Verstandes, die sich von der Wirklichkeit abgelöst habe.