Aus dem Kapitel BENDOWA noch einmal einen Abschnitt: eine Frage und die Antwort des Dogen. Und ich denke, das ist diesmal weniger aufregend.
.Karl Obermayer Karwochen-Sesshin 2011
Die Frage lautet:
Menschen, die Mönche oder Nonnen geworden sind und ihr bisheriges Zuhause verlassen haben, befreien sich zugleich von allen Bindungen und können sich ungehindert Zazen und dem Buddha-Weg widmen. Wie aber ist es für vielbeschäftigte Laien möglich, sich ganz der Schulung hinzugeben und eins mit der absichtslosen Buddha-Wahrheit zu werden?
Antwort:
Grundsätzlich ließ Buddha in seinem unermesslichen Mitgefühl das große und weite Tor der Güte für alle offen, so dass alle Lebewesen die Wahrheit verwirklichen und darin eintreten können. Welcher Mensch oder Gott würde da nicht eintreten wollen? Betrachten wir die Vergangenheit und Gegenwart in diesem Sinn, so gibt es hierfür zahlreiche Beispiele. Daiso und Junso waren beispielsweise in ihrer kaiserlichen Stellung von wichtigen Staatsgeschäften beansprucht. Dennoch praktizierten sie Zazen und verwirklichten Buddhas große Wahrheit. Minister Li und Minister Bo, die als wichtige Berater des Kaisers für das ganze Land unersetzlich waren, übten beide Zazen und erfuhren selbst den großen Weg der Buddhas und Patriarchen. Das Üben und Erfahren beruht einzig darauf, ob der Wille zur Wahrheit stark ist oder nicht. Es hängt nicht davon ab, ob der Körper zu Hause bleibt oder in ein Kloster geht. Wer zudem genug in die Tiefe geht und Höheres von Geringerem unterscheiden kann, wird auf natürlich Weise vertrauen. Wer meint, dass weltliche Pflichten den Buddha-Dharma hindern, denkt nur, dass der Buddha-Dharma in dieser Welt nicht existiert. Er weiß aber noch nicht, dass es für einen Buddha keine weltlichen Dharmas gibt. Kürzlich gab es im großen China einen Mann, der Minister Hyo genannt wurde. Er war ein hochrangiges Regierungsmitglied, der Buddhas Wahrheit vollendet hatte. In seinen späteren Jahren verfasste er folgendes Gedicht:
Wenn es die Regierungspflichten erlauben,
Sitze ich gerne im Zazen.
Selten berührte meine Seite das Bettlager,
Obgleich ich jetzt erst Minister bin,
Geht mein Ruf als alter Zazen-Übender über die vier Meere hinaus.
Dies war jemand, dem seine Regierungspflichten eigentlich keine Zeit ließen, und der die Wahrheit trotzdem erfahren konnte, weil er fest entschlossen war. In gleicher Weise sollten wir uns selbst erkennen und über die heutige Zeit im Vergleich zu jenen Tagen nachdenken. Im großen Königreich der Song richtet die jetzige Generation von Königen und Ministern, Beamten und Bürgern, Männern und Frauen ihren Geist ohne Ausnahme auf Buddhas Wahrheit. Sowohl die Klasse der Krieger als auch die der Literaten üben entschlossen Zazen und lernen den Buddha-Weg. Viele der Entschlossenen werden zweifellos Klarheit erlangen. Daraus können wir eindeutig schließen, dass weltliche Pflichten den Buddha-Dharma nicht hindern. Wenn der wahre Buddha-Dharma sich im Land verbreitet, beschützen Buddhas und Götter dieses Land dauerhaft, und es wird dadurch friedlich regiert. Wenn die Kaiser das Land friedlich regieren, gewinnt auch der Buddha-Dharma an Kraft. Zu Lebzeiten des Shakyamuni erlangten sogar Menschen mit schweren Vergehen und falschen Ansichten die Wahrheit. Im Orden der Patriarchen erlangten sogar Jäger und alte Holzfäller die Verwirklichung. Dies gilt umso mehr für andere Menschen. Wir müssen nur die Lehre und den Weg eines wahren Lehrers erforschen.
Soweit aus diesem Text. Dazu eine kurze Erklärung, weil er hier schreibt: „Jäger und sogar Holzfäller“ – die hatten nämlich einen niedrigen gesellschaftlichen Stand, weil sie töten. Und das entspricht eigentlich nicht dem Ideal Buddhas, Leben zu töten, pflanzliches und tierisches Leben in diesem Fall. Aber auch diese konnten den Weg verwirklichen. Nun, auch bei uns hat es eine Umbesetzung der Ministerposten gegeben, aber ich glaube nicht, dass die so sehr auf Zazen schwören, wie es hier die Minister der Song-Dynastie getan haben.
Und da erinnere ich mich, dass Nagaya manchmal gesagt hat – das war damals gerade aktuell, als er da war: Wenn Chruschtschow und Kennedy zusammen sitzen würden, würde das für den Weltfrieden sehr wirkungsvoll sein. Aber das war eben nicht der Fall.
Es geht hier also darum, und insofern betrifft es uns, dass das kein Widerspruch ist: Wenn man einen weltlichen Beruf hat, wenn man womöglich auch wenig Zeit und sehr viel zu tun hat, ist es dennoch möglich, den Weg zu gehen und Zeit für Zazen zu finden. Aus vielen Gesprächen, auch beim Dokusan, weiß ich, dass sich viele bemühen fast täglich einmal zu sitzen. Nagaya hat bei der Verabschiedung immer gern gesagt und ermahnt: „Bitte jeden Tag ein Stäbchen sitzen“. Das hängt damit zusammen, dass er das Räucherstäbchen als Zeiteinheit genommen hat. Er hat vor sich immer Räucherstäbchen angezündet, und wenn das abgebrannt war, war das Zazen zu Ende, das war für ihn ein Zeitmaß: „Ein Stäbchen sitzen“. Es gibt natürlich verschieden lange Stäbchen, das muss man dazu sagen. Es bleibt jedem überlassen, wofür er sich entscheidet und wofür er sich Zeit nimmt.
Es ist auch interessant – Dogen gilt ja als Begründer der Soto-Richtung im Zen – dass Soto von Anfang an nicht nur für Mönche und Nonnen, sondern auch für Laien zugänglich war, was zum Beispiel bei Rinzai nicht der Fall war. Erst im 20. Jahrhundert hat sich Rinzai auch für Laien geöffnet. Und so war Nagaya wahrscheinlich einer der ersten, der eine Laien-Zen-Gruppe geleitet hat. Sein Meister, ein Rinzai-Meister, hat in Tokyo für Laien ein Dojo gegründet, das „Tabudoku Dojo“, das heute noch existiert, und hat Nagaya, der bei ihm geübt hat, als Lehrer eingesetzt. Und Nagaya hat mit Schmunzeln manchmal gesagt, sein Meister habe ihn als einen „Mönch mit Haaren“ bezeichnet, weil er nicht kahl rasiert war, wie es bei den Mönchen üblich ist, sondern seine Haare hatte. (Wenn er bei uns war, hat es eine Friseurin aus Braunau gegeben, die ihm immer die Haare schneiden durfte.)
Nagaya selbst war Philosophieprofessor an der Universität und hat auch Zen gelehrt. Nach Ende des Krieges sind Leute, die sich für die japanische Tradition und Kultur engagiert haben, ins Abseits geraten. Eine Zeit lang war er arbeitslos. In Japan gibt es auch etwas Ähnliches wie ein Unterrichtsministerium, ich weiß nicht, wie das genannt wird, und dort hatte er eine Funktion gehabt. Das alles wurde ihm für eine Zeit lang genommen. Sein Spruch war immer: „Vorteil ist Nachteil, Nachteil ist Vorteil“. Da hatte er mehr Zeit für Zen, weil er arbeitslos war.
Und es ist auch so, wenn man heute eine Japanreise macht und auch Klöster besichtigt, sind es hauptsächlich Rinzai-Klöster, die im Besichtigungsprogramm stehen, denn dort gibt es etwas zu sehen. Die haben Kunstschätze – Rinzai wurden von den Feudalherren sehr gefördert – während die Soto-Klöster eher arm sind und sich nicht in den Städten, sondern mehr auf dem Land, in den Bergen befinden. Man hat auch öfter gesagt: „Soto ist das Zen der armen Leute“.
Darum habe ich heute für das letzte Teisho dieses Kapitel herausgenommen, weil nach dem Sesshin sich immer die Frage für uns stellt, wie geht es weiter? So oft kann man nicht Sesshin machen. Wie kann ich also Zeit gewinnen für Zazen? Und nicht nur im formellen Sitzen, sondern wie kann ich die Haltung, die uns Zen nahe bringt, auch ins Alltagsleben mit hinein nehmen? Das heißt, diese Wachsamkeit und Aufmerksamkeit auf alles richten, was man gerade tut. Bei sich zu sein in allen Situationen des alltäglichen Lebens. Da möchte ich zum Abschluss noch einmal Kodo Sawaki zu Wort kommen lassen, den ich schon am ersten Tag mit einer Aussage über Zazen zitiert habe:
Zen ist das Vertrautwerden mit dir selbst. Du machst dich selbst durch dich selbst zu dir selbst. Das wird ein Buddha genannt: einer, der vollkommen zu sich selbst geworden ist. Zen bedeutet also, zu dir selbst zurückzukehren. Wenn davon die Rede ist, einen Schritt zurück zu machen, so ist damit gemeint: einen Blick auf sich selbst zu werfen. Zazen ist eine vollkommen neue Lebensperspektive. Im Zazen musst du mit dir selbst vertraut werden. Wenn du mit dir selbst vertraut wirst, werden alle Dinge im Universum zu einem Teil deiner selbst. Hier geht es nicht um dein vom Schimmel überwachsenes persönliches Selbst. Es geht um dich selbst, der du nahtlos mit dem Universum verbunden bist. Das heißt, dass du gleichzeitig mit allen Buddhas und mit allen leidenden Wesen verbunden sein musst. Nach dir selbst auf diese Weise zu suchen bedeutet, das Herz des Weges zu besitzen. Das Herz des Weges sieht ein, dass Ich und Du nicht getrennt voneinander sind. Zu glauben bedeutet, im Zazen mit sich selbst vertraut zu werden und diese Klarheit über sich selbst in die Praxis des Alltags umzusetzen.
Das ist also sozusagen der Impuls für die Zukunft nach dem Sesshin.