Claude Durix · Wien 1998
Dôgen (1200-1253) war einer der ersten Gründer des Zen in Japan. Er hatte aus China die Lehren der Ch´an-Schule des Südens mitgebracht, die zur Grundlage des Sôtô-Zen in Japan wurden. Er predigte sein ganzes Leben lang Armut und Einfachheit, und hielt Abstand zu den Ehren und dem Verkehr mit den Großen dieser Welt. Er betonte die Wichtigkeit der Praxis des Zazen, der sitzenden Meditation, ohne Ziel und ohne besondere Absicht. Jenen die ihn fragten, wie man zur Erleuchtung, dem Satori, gelangte, antwortete er, dass Zazen in sich selbst Satori ist.
Siebzehneinhalb Jahrhunderte nach Anaxagoras von Klazomenes, 699 Jahre vor Francis Crick, hat Dôgen von diesen Problemen des Seins und der Zeit, den Ursprüngen des Lebens und unseres Platzes im Universum gesprochen. Er hat es gesagt und wiederholt, in Kusen und Teishos, von 1231 bis 1253. Seine Schüler haben sie aufgeschrieben und später in 95 Faszikeln zusammengefasst, die das Hauptwerk von Dôgen bilden, dem Shôbô Genzô.
Shôbô Genzô bedeutet buchstäblich “Der Behälter des richtigen Gesetzes“. Es wurde von dem Schüler und dem Nachfolger von Dôgen, Ejô (1198-1280), ins Reine geschrieben. Es ist zur Gänze auf Japanisch geschrieben, was zu dieser Zeit selten war, weil alle wichtigen buddhistischen Texte in klassischem Chinesisch oder in liturgischem Sino-Japanisch geschrieben waren. Das hindert ihn aber nicht daran, oft schwer verständlich zu sein. Aber die persönlichen Gedanken von Dôgen sind voller Lebenskraft und voller Reichtum und sind auch sehr originell ausgedrückt. Im Shôbô Genzô werden alle Themen behandelt, von schwierigen metaphysischen Problemen hin bis zu alltäglichen Handlungen, wie die richtige Art, sich die Zähne zu putzen oder auf die Toilette zu gehen. Kein menschliches Problem ist ihm fremd. Mehrere Kapitel sind dem Kochen gewidmet, dem Zeremoniell des Essens oder des Bades. Das Ganze ist im Geiste der Armut geschrieben und ist von der Aufgabe des Ego in der Praxis des Zazen gekennzeichnet. Von Zazen ist nämlich im Werk von Dôgen immer wieder die Rede; es wird mit dem Erwachen gleichgesetzt, wie das Sein mit dem Universum gleichgesetzt wird.
Das Shôbô Genzô ist durch seinen, man könnte sagen, wissenschaftlichen Aspekt beeindruckend, durch seinen scharfen Sinn für die Wirklichkeit, sowie gleichzeitig durch die ungeheure Gelehrsamkeit seines Autors, der sich jedoch als Feind der Gelehrsamkeit sah. Hier einige Überschriften: – Wie man sich das Gesicht wäscht – Das Leben der großen Meister – Die Notwendigkeit, einen hohen Geist zu haben – Acht Regeln für Laien – Berg und Wasser – Das Murmeln des Flusses im Tal und die Farbe des Berges – Regeln für das Verhalten des Schülers gegenüber seinem Meister – Sammlung von Liedern und Gedichten – Acht Richtlinien der praktischen Philosophie der großen Meister um Satori zu erlangen, das vollkommene Befreiung ist – und vor allem: Leben und Tod – und Sein-Zeit.
Für die meisten unserer Gelehrten und Philosophen ist diese Beziehung zwischen dem Sein und der Zeit das Ergebnis einer langen Folge von Überlegungen, intellektuellen Schlussfolgerungen und Berechnungen. Sie begreifen nicht immer welche Folgen ihre Entdeckungen für die Zukunft der Menschheit haben könnten. So wie er es sagt ist für Dôgen die Gewissheit der vollkommenen Identität zwischen Sein und Zeit das Ergebnis einer erfahrungsmäßigen Erkenntnis, die durch die Praxis des Zazen erlangt wird. Er weiß, dass diese Erfahrung der Welt Frieden und Freiheit bringt.
Das Kapitel mit der Überschrift U-ji, Sein-Zeit, beeindruckt uns durch seinen “wissenschaftlichen, erfahrungsmäßigen“ Charakter. Auch in den schwierigsten Abschnitten kommt immer eine praktische Seite zum Ausdruck.
“Sein-Zeit“, sagt Dôgen zunächst, “bedeutet, dass die Zeit mit dem Sein vermengt ist. Alles Seiende ist von der Zeit. Ihr müsst gelten lassen, dass jedes Ding und jedes Wesen in dieser Welt von der Zeit sind. Kein Ding widersetzt sich einem anderen, sowie keine Zeit sich einer anderen widersetzt.“
Vielleicht wäre es in unserer schwierigen Zeit an der Zeit, zunächst damit aufzuhören, in gegensätzlichen Begriffen zu denken und zu sprechen. Die geistige Haltung, die darin besteht, jede Idee, die uns zugetragen wird, zunächst einmal zu widerlegen, bevor sie nur einmal beleuchtet zu haben, ist sehr verbreitet, in der Philosophie, in der Wissenschaft, in der Politik, in der Theologie. Vielleicht wäre es an der Zeit, in Begriffen von Harmonie, mit Worten der Verständigung, der Übereinstimmung, der Sympathie zu sprechen. “Kein Ding widersetzt sich einem anderen, sowie keine Zeit sich einer anderen widersetzt“ sagt uns Dôgen immer wieder. In dieser Praxis des Zazen, in das wir alle eingetaucht sind, in dieser Zeit, die vergeht ohne zu vergehen, in der Harmonie der Wesen und der Zeit, können wir das erfahren.