Gedanken zum interreligiösen Miteinander
Beim Interreligiösen Friedenstreffen in München im September 2011 nahm ich unter anderem an dem Forum zum Thema „Das Gebet als Quelle des Friedens“ teil. Das Podium war hochkarätig besetzt, Vertreter einiger Religionen gaben mehr oder weniger ausführliche Statements zum Thema ab, unter den Zuhörern saßen Christen, Juden, Moslem, Buddhisten, Hinduisten, spirituell Interessierte, allesamt bestimmt interreligiös engagiert.
Die Veranstaltung bewegte sich ausschließlich auf der diskursiv-theoretischen Ebene, unterschiedliche Positionen wurden deutlich, gewisse Überschneidungen ließen sich ausmachen. Ein Dialog im strengen Sinne des Wortes blieb aus. Als gegen Ende der vorgesehenen Zeit noch ein paar Fragen aus dem Publikum zugelassen wurden, meldete ich mich zu Wort.
Meine Einlassung lautete ungefähr so: „Angesichts von Großkatastrophen oder Gedenktagen ist es in den Zivilgesellschaften weltweit üblich, zu kollektiven Schweigeminuten einzuladen – so geschehen nach 9/11 oder dem thailändischen Tsunami. Da stehen dann gegebenenfalls Menschen unterschiedlichster spiritueller oder weltanschaulicher Orientierung Hand in Hand und stillschweigend eine Weile beieinander im Gedenken an die Opfer des Unglücks und ihre Angehörigen. Dieses Gedenken hat zweifellos spirituellen Charakter.
Schweigen ist offensichtlich die grundlegende und universal kompatible spirituelle Übung.
Warum nutzen wir Anwesende, die sich doch ausdrücklich als religiöse und interreligiös engagierte Menschen verstehen, nicht die Gunst der Stunde und tun, was uns eint, anstatt nur über Bedeutungen zu reden und Bedeutendes zu sagen? Ich schlage vor, dass wir miteinander eine Weile schweigen und uns auf die Erfahrung einlassen, darin hier und jetzt eins zu sein.“
Der wohlwollende Moderator des Forums stimmte meinem Vorschlag zu und lud die etwa hundert Teilnehmer ein, die noch verbleibende Zeit gemeinsam zu schweigen. Es war, wie mir anschließend mehrfach bestätigt wurde, ein beeindruckendes Erlebnis. Eine Frau sagte sogar, genau darauf habe sie die ganze Zeit gehofft: dass wir eine Ebene finden, auf der wir die ersehnte und notwendige Einheit schon jetzt praktizieren können – und zwar auf theologisch vertretbare und seriöse Weise. Wunderbar!
Für mich bestätigte dieses Erlebnis, worauf ich schon seit Jahren hinarbeite: dass es Ebenen gibt, auf denen die Einheit der Religionen und Weltanschauungen jederzeit und überall möglich und erfahrbar ist – wenn wir es denn wollen!
In meinem Theologiestudium habe ich gelernt, dass die Grundvollzüge der christlichen Gemeinde lauten: Leiturgia, Martyria, Koinonia und Diakonia, zu deutsch: Gottesdienst, Glaubenszeugnis, Gemeinschaft und Dienst am Nächsten.
Diese vier Grunddimensionen finden sich in allen Religionen wieder. Ob Judentum, Hinduismus, Buddhismus, Christentum, Islam oder die Bahai-Religion, um nur die größten Gemeinschaften zu nennen – jede kennt eine Reihe von spirituellen Praktiken, Rezitationen heiliger Texte, Rituale, religiöse Gesänge usw; jede vertritt eine bestimmte Lehre, die meist durch Hierarchen mündlich oder schriftlich tradiert, mehr oder weniger weiterentwickelt und von den „Laien“ in vereinfachter Weise bekannt wird; in jeder dieser Religionen spielt das Zusammenleben und seine Kultivierung in Gewohnheiten, Sitten und Gebräuchen eine große Rolle, sei es in einem ganzen Volk, einer Kirche, Gemeinde, Sangha, einem Orden oder einer Kaste; schließlich gehört zu jeder Religion der Einsatz für die Not leidende Mitwelt und Umwelt, also der diakonale Aspekt.
Wo findet sich die Einheit in all der historisch gewachsenen Vielfalt religiöser Ausdrucksformen? Was ist diesen vier Grundvollzügen in allen Religionen und Weltanschauungen oder spirituellen Orientierungen gemeinsam? Was ist ihr miteinander identischer Kern vor und jenseits aller Diversifizierung?
Hinsichtlich der „Leiturgia“ ist es – wie gesagt und erlebt – das schweigende Innehalten. In jeder Religion und auch Philosophie wird dem Schweigen vor und neben allen hochdifferenzierten Formen der Gottesverehrung und spirituellen Riten große Bedeutung beigemessen. Zwar wird das Exerzitium des Stillschweigens in einer Art Arbeitsteilung meist religiösen Spezialisten wie Mönchen und Nonnen überlassen; dennoch spielt es auch in der spirituellen Praxis der sogenannten Laien eine Rolle. Heutzutage suchen immer mehr – auch nicht-religiöse – Menschen Orte und Zeiten, wo sie stille Einkehr halten und die Kunst der Introversion, die vita contemplativa pflegen können.
Der griechische Ausdruck „Martyria“ erinnert einen Christen zunächst weniger an theologische Lehrgebäude und „Credos“ als an die Märtyrer, die ihren persönlichen Glauben schon zu Zeiten, in denen es noch keinen theologisch ausformulierten oder dogmatisierten Glauben gab, mit ihrem Leben bezeugt und bezahlt haben. deLetzten Endes geht es bei dem „Grundvollzug“ namens Martyria um die angstfreie, von möglichen Konsequenzen unbeeindruckte Bezeugung der persönlichen Dimension ssen, was jemand glaubt, worauf einer vertraut, wonach er oder sie sich richtet, was jemand in Bezug auf Glauben und Spiritualität erfahren und erlebt hat, was ihn prägt, welche Entwicklung er oder sie in dieser Hinsicht genommen hat, welche Wege jemand in seiner Religiosität gegangen ist und geht, persönlich vertritt und verantwortet.
Diese Art von „Glaubenszeugnis“ kann jeder Mensch geben, gleich welcher Religion oder Weltanschauung er/sie sich zugehörig fühlt. Die individuellen Bekenntnisse sind natürlich so zahlreich und vielfältig wie es Menschen gibt! Sie sind für den je einzelnen Menschen gültig und daher nicht in Abrede zu stellen. Sie entstammen immer dem gelebten Leben, der lebendigen Spiritualität und nicht einer vom Leben, von individueller Erfahrung und Einsicht abstrahierten Theologie oder indoktrinierten Ideologie.
Hinsichtlich der „Martyria“ ist also allen religiös und spirituell orientierten Menschen gemeinsam, dass jeder einzelne seine spirituelle Geschichte erzählen und seine ureigenste Wahrheit bezeugen kann. Die personalisierte Martyria ist somit universal kompatibel und lässt per se in der Vielfalt die Einheit aufscheinen.
Was ist der allen Religionen und Weltanschauungen gemeinsame identische Kern der „Koinonia“, des gemeinschaftlichen Miteinanders? Es ist das Essen und Trinken. Franz Mußner, der bedeutende Alttestamentler, hat es „das Wesen des Christentums“ genannt, und überall, wo Menschen auf dieser Erde zusammenkommen, spielt es die primäre Rolle. Gastfreundschaft ist ohne Essen und Trinken undenkbar. Wenn aber nun in verschiedenen Religionen Speisevorschriften gelten, die das Essen und Trinken mit anderen unmöglich erscheinen lassen?
Eines Tages wurde ich zu einem Interreligiösen Abendessen eingeladen. Unter den etwa vierzig Gästen waren Juden und Moslem, Buddhisten und Hinduisten, katholische und evangelische Christen. Als ich zu der Runde stieß, war das Essen bereits im Gange. Es gab eine köstliche Kürbissuppe, dann ein angenehm würziges Gemüsegericht mit Reis und zum Nachtisch Gebäck mit Nüssen und Rosinen. Dazu wurden verschiedene Tees und Wasser gereicht.
Als alle gegessen hatten, hielten die Vertreter der einzelnen Glaubensrichtungen Vorträge über ihre jeweiligen Speisevorschriften und Fastengebote. Dabei wurde deutlich, welche gravierenden Unterschiede es zwischen den diversen Religionen gerade im Hinblick auf Essen und Trinken gibt.
Über all dem Trennenden schien mir auf einmal wieder das Einende vergessen worden zu sein. Wir hatten doch eben alle miteinander das gleiche gegessen und getrunken! Ich zeigte auf und bat darum, diese Tatsache doch bitte als das zu würdigen, worin alle konvergieren. Wir haben uns bei diesem interreligiösen Abendmahl bewusst auf das Essen von Gemüse beschränkt und auf Tiere oder tierische Produkte verzichtet. Und wir haben keinen Alkohol getrunken. Es hat uns geschmeckt, wir haben nichts vermisst.
Die Erfahrung der Einheit der Religionen und Weltanschauungen in der „Koinonia“ ist möglich, wenn Tiere oder tierische Produkte und Alkohol in der Nahrung keine Rolle spielen. So einfach ist das!
Aber „Koinonia“ ist natürlich mehr als Essen und Trinken. Auch das Musizieren und Tanzen, Spiel und Sport, Feiern und Arbeiten gehören dazu! All diese Aktivitäten sind problemlos auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, solange die Menschenwürde respektiert wird und Gewaltfreiheit oberstes Prinzip des Umgangs miteinander bleibt.
Aus der Koinonia ergibt sich fast von selbst der vierte Grundvollzug: die „Diakonia“, der Dienst an den Notleidenden, der Einsatz für die Bewahrung der Schöpfung, die Arbeit für das Wohlergehen von allen und allem.
In allen Religionen und Philosophien spielt diese Dimension eine Rolle, und sie wird zunehmend wichtig, wenn die Verelendung aufgrund der Gier einiger weniger Habsüchtiger voranschreitet. Wir erleben es, und es wird noch schlimmer kommen, wenn wir uns nicht noch mehr in Solidarität üben.
Ergreifend zu sehen ist für mich z.B. immer wieder, wie im Katastrophenfall Rotes Kreuz und Roter Halbmond zusammenarbeiten, wie sich NGO’s „ohne Grenzen“ für Notleidende einsetzen, wie Umweltorganisationen über konfessionelle Grenzen hinweg sich für den Erhalt der Schöpfung verwenden, wie in Wissenschaft und Forschung jenseits religiöser Einstellungen zum Wohl der Menschheit und der Natur gearbeitet wird!
Manchmal scheint es, als verkomme der interreligiöse Dialog zur Verhinderung dessen, was sein ureigenstes Ziel ist: die Einheit der Religionen und spirituellen Orientierungen!
Natürlich wird niemand ernsthaft meinen oder wollen, dass alle Menschen eine einzige Religion teilen. Das wäre nichts anderes als spirituelle Diktatur und widerspräche völlig der natürlichen anthropologischen Diversifizierung. Die Einheit in der Vielfalt zu erkennen und zu erleben ist das Ziel. Die Vielfalt der religiösen Ausdrucksformen ist eine wunderbare Errungenschaft der Menschheit, die es unbedingt zu pflegen und zu erhalten gibt. Daneben darf und soll aber auch erfahrbar werden, was alle eint. Dafür ist es wichtig, den allen gemeinsamen identischen Kern der Grundvollzüge religiösen Lebens, sozusagen den metareligiösen gemeinsamen Nenner, herauszuarbeiten und ihn zumindest von Zeit zu Zeit erlebbar werden zu lassen: im gemeinsamen Schweigen, im Austausch persönlicher spiritueller Lebensgeschichten, im für alle möglichen Essen und Trinken und Feiern, in religionenübergreifenden Projekten zur Linderung der Not und Förderung des Wohlergehens von Mensch und Tier, von Pflanze und Baum, von Himmel und Erde!
Eins ist einfach! Trauen wir uns!
Dr. Josef Wimmer
Passau