Claude Durix · Wien 1998
In unserem Organismus vergeht keine Sekunde, ohne daß sich nicht irgendetwas verändert. Fast alle Zellen unseres Körpers sterben in jedem Augenblick. Sie werden durch andere ersetzt, die die gleiche Funktion haben und die von unseren spezialisierten Organen hergestellt werden, die wahre biologische Fabriken sind. Die Nervenzellen werden beim Sterben jedoch nicht erneuert. Zum Zeitpunkt unserer Geburt gibt es davon einige Milliarden, davon verlieren wir jeden Tag ein- bis zweitausend, die nie ersetzt werden. Aber wenn alles gut geht, kommt es zu einem Phänomen, das sehr lehrreich ist. Die überlebenden Nervenzellen übernehmen und versehen zusätzlich zu ihren eigenen die speziellen Aufgaben der untergegangenen Zellen. So können Erinnerungen und Gelerntes erhalten und weitergegeben werden. Diese Fortdauer ist im Leben des Einzelnen und in der Geschichte der Völker von Wichtigkeit.
Wir müssen uns so erneuern, indem wir mit aller Sorgfalt in unserem genetischen Gedächtnis die Essenz unseres fundamentalen Wesens und den Geist unserer jeweiligen Kultur bewahren. Wenn etwas Wichtiges in uns auf natürliche Weise zu Ende geht, muß es augenblicklich abgelöst und fortgesetzt werden. Und so müssen wir jeden Tag selber sterben, um unserem wahren Selbst besser zum Leben zu verhelfen.
Diese ständige Erneuerung ist für das physische Leben genauso unentbehrlich wie für das spirituelle. Dorothea von Gaza, ein palästinensischer christlicher Mönch aus dem VI. Jahrhundert, sagte, man müsse zumindest zweimal täglich eine tiefe Gewissenserforschung machen. Er wendete sich an Mönche, die in der Wüste ein kontemplatives Leben führten und die meiste Zeit mit Gebet verbrachten. Aber wir, die im XX. Jahrhundert in ein kompliziertes Leben eingetaucht sind, das voller Schwierigkeiten und Versuchungen ist, sollten uns jede Sekunde fragen: wer sind wir, wie leben wir, räumen wir unserem spirituellen Leben genügend Zeit ein, unserem Familienleben, jenen, die wir lieben, jenen, denen wir helfen sollten, räumen wir der Suche unserer wahren Persönlichkeit, jenseits ihrer künstlichen Merkmale, genügend Zeit ein ? Ja, jede Sekunde sollte diese Suche stattfinden. Jede Sekunde sollten wir versuchen, so wie es unsere Nervenzellen tun, die verlorenen Möglichkeiten zu ersetzen und durch neue Anpassung an die Umstände zu ergänzen. Ein altes Sprichwort der Kampfkünste sagt: „Ich habe keinen Grundsatz: die Anpassung an die Umstände mache ich zu meinem Grundsatz“. Unser Organismus ist ein Beispiel dafür, das uns meistens nicht bewußt ist.
In der Praxis des Zazen können wir den natürlichen Determinismus wiederentdecken, der uns erlaubt, diese ständige Erneuerung zu verwirklichen und fortzuführen. Wir entdecken sie im Tiefsten unseres Selbst, in der fundamentalen Haltung des Körpers, die die natürliche Bestimmung des Menschen ist, mit einer tiefen und ruhigen Atmung, mit dem Augenmerk auf die Ausatmung, die unsere innere Welt ständig mit der äußeren Welt kommunizieren läßt, mit dem Geisteszustand eines neugeborenen Kindes, das mit dem Universum eins ist.