Claude Durix · Wien 1998
Der Heilige Johannes sagte: „Oportet nasci denuo“, „Man soll neu geboren werden“…Die Übersetzer haben nicht immer alles richtig verstanden. Manche übersetzen es mit „Man soll von oben geboren werden“, andere wieder anders. Es ist für den Menschen schwer zu akzeptieren, und umso mehr vielleicht für einen Theologen, daß er sein ganzes Wissen vergessen und wieder wie ein neugeborenes Kind werden soll.
Wenn Bodhidharma im V. Jahrhundert Zen als „unabhängig von Texten und Worten, direkt in das Herz des Menschen gerichtet, um ihn zum Erwachen zu bringen“ definierte, drückte er auf eine andere Weise dieselbe Notwendigkeit einer Rückkehr zur ursprünglichen Unschuld aus. Der erwachte Zustand, von dem er spricht, und von dem zahlreiche Meister nach ihm gesprochen haben, das ist ganz jener des neugeborenen Kindes, das nichts weiß, das nichts fragt, das nichts besitzt, das aber potentiell die gesamte Weisheit des Universums besitzt.
Mein Zen-Meister, Sengoku Roshi, erzählte mir einmal, daß „sein Heil zu wirken“ im religiösen Sinn, sowohl auf Japanisch wie auf Chinesisch “ gedatsu “ heißt, was wortwörtlich “ fallen lassen “ bedeutet, so wie der Baum im Winter seine Blätter fallen läßt, um in der nächsten Jahreszeit wieder neugeboren werden zu können. Zur der Zeit, als Dogen Student in China war, erlangte er die Erleuchtung, als er seinen Meister Nyojo laut schreien hörte: „Shin jin datsu raku!“-„Lasst Körper und Geist fallen!“.
Ja, wenn wir nicht wieder wie Neugeborene werden, können wir nicht unser Heil erlangen, können wir nicht einmal leben! Ununterbrochen, Tag für Tag, Stunde für Stunde, Minute für Minute, Sekunde für Sekunde, müssen wir wieder ein neuer Mensch werden, mit all den Möglichkeiten, die wir hatten, als wir auf die Welt kamen. Die natürlichen Funktionen unseres Organismus, die instinktive Weisheit unseres Körpers geben uns ein Beispiel davon. In unserem Körper sterben wir jeden Augenblick und werden wieder neugeboren. Und wenn aus einem besonderen physiologischen Grund der Ersatz nicht stattfinden kann, muß augenblicklich Stellvertretung organisiert werden.
„Gedatsu“, „fallen lassen“ bedeutet, daß wir, so wie die Bäume im Herbst es mit den toten Blättern tun, die falschen Anteile unserer Persönlichkeit fallen lassen müssen, um im Geist und in der Wahrheit wieder lebendig zu werden. „Shin jin datsu raku“, „Lasst Körper und Geist fallen“ bedeutet, daß wir noch zu sehr an den egoistischen Anteilen von uns selbst hängen, um imstande zu sein, zum wirklichen Leben zu erwachen. Letztendlich bedeutet „Nasci denuo“, „neu geboren werden“, daß wir, hier und jetzt, überall und immer, zu einer ständigen Auferstehung in der Einheit eingeladen sind.
Diese Auferstehung, dieses neue, ununterbrochene Leben, diese Unschuld des neugeborenen Kindes, können wir auch in dieser einfachen Praxis erfahren, durch die richtige Körperhaltung, die richtige Atmung, die richtige Geistesverfassung. Ja, wirklich, es ist so, „wir müssen neu geboren werden“. Übt weiter Zazen.