Claude Durix · 1. Kusen in Wien 1999

Letztes Jahr haben wir von der Notwendigkeit gesprochen, uns immer wieder in Frage zu stellen, wenn wir wirklich als verantwortungsvolle menschliche Wesen leben wollen. Durch die Praxis des Zen haben wir gelernt, wachsam zu bleiben, nichts als endgültig erworben zu betrachten, uns ständig zu fragen: „Wer sind wir, wie leben wir, was ist der Sinn unseres Lebens“. Wir haben uns an diesen Satz von Johannes erinnert: „Oportet nasci denuo“ – „Man muss neu geboren werden“… Wir sagten, dass wir so zu einer fortwährenden Auferstehung berufen sind in unserer fundamentalen Einheit mit dem Universum.

Das alles ist nicht so leicht zu verstehen, wenn wir uns damit begnügen, in philosophischen Termini zu denken, mit unserer Intelligenz allein. In welchem Raum, in welcher näher bestimmten Zeit befindet sich diese ununterbrochene Folge von Geburten und Wiedergeburten, die wir berufen sind zu leben? Sind wir nicht ein für allemal geboren, an dem Tag, zu dieser Stunde, aus zwei Personen entstanden, die unsere Eltern waren? Feiern wir nicht regelmäßig jedes Jahr unseren Geburtstag zum gleichen Datum, und auch besondere Abschnitte: den 20., den 50., den 60., den 100. Geburtstag? Und die besonderen Geburtstage? Den 50. Hochzeitstag, den wir hier in Wien bei und dank Ihnen verbracht haben, eine unvergessliche Goldene Hochzeit? Wie könnten wir diese unabänderlichen Augenblicke unseres Lebens, unserer Geburt, und die unserer Lieben in Frage stellen? Wie könnten wir außerhalb dieser so bequemen Anhaltspunkte in unseren persönlichen Kalendern und der feststehenden Geburtstage ständig wiedergeboren werden, wie Phoenix in den alten Legenden?

Die Zeit vergeht, sie bringt uns im allgemeinen etwas mehr Erfahrung, etwas mehr Heiterkeit, Freude, Befriedigung, oft gleichzeitig auch Kummer, Schmerzen und Sorgen, die genau im Zusammenhang mit dieser vergehenden Zeit stehen: „Fugit inexorabile tempus“ sagte Virgil (Georg., III., 284). Wir können offensichtlich, scheinbar, nichts tun, um den Verlust der Zeit zu bannen.

Unsere Galaxie, mit der Sonne, um sie herum einige Planeten und ihre Satelliten und unsere Erde, ist vor 5 Milliarden Jahren entstanden, sagen die Wissenschaftler: einige Puristen berichtigen und sagen 4 Milliarden und 600 Millionen Jahre. Keine Spitzfindigkeiten!

Das Universum, dem diese Galaxie dann angehören sollte, war schon 10 Milliarden Jahre früher entstanden, in einer großen Umwälzung – aber Umwälzung von was? -, die man als Big Bang, als großen Boom bezeichnet: Das war das Ursprüngliche Universum! Damals gab es keine Struktur: keine Atome, nur intensive Strahlungen und Elementarpartikeln… Es wurden über „Die ersten fünf Minuten des Universums“ ganze Bücher geschrieben: die ersten fünf Minuten vor 15 Milliarden Jahren. Ich habe Gelehrte, Astrophysiker, befragt, was während der fünf Sekunden vor der ersten Minute war, was vor sich gegangen war. Kein einziger konnte mir darauf eine Antwort geben.

In einem berühmten Zen Kôan stellte der Meister seinem Schüler eine scheinbar unlösbare Frage, ähnlich der, die ich den Astrophysikern gestellt hatte: „Was war dein wahres Gesicht vor der Geburt deiner Eltern?“ Während eines Sesshin in Marokko hatte ich früher einmal von diesem Kôan erzählt. Da war auch ein junger Mann, Marokkaner, Moslem, den die anderen für etwas einfältig, nicht sehr intelligent hielten. Er bat mich, die Frage zu wiederholen, und ich vereinfachte etwas: „Wo warst du vor der Geburt deiner Eltern?“. Er dachte scharf nach und runzelte die Stirn. Dann plötzlich, nach einer langen Zeit, rief er, fröhlich, erleuchtet: „Ich war mit Gott“. Er hatte eben auf die Frage geantwortet, bei der die Gelehrten geschwiegen hatten. Ich fragte ihn: „Und wie war es?“. Er antwortete sofort: „Wir waren Freunde!“ Was kann man da noch dazu sagen?

Nach einigen Milliarden Jahren hat sich dieses ursprüngliche Universum mehr oder minder organisiert, strukturiert, Partikeln haben sich zu Atomkernen zusammengefügt, und eine Expansion von unglaublicher Geschwindigkeit und Kraft bemächtigte sich der Leere. Dann haben sich Galaxien gebildet, unsere und viele andere, und dann, weil die Bedingungen günstig waren, ist das Leben auf unserer Erde erschienen, und vielleicht auf vielen anderen auch. Wir sind als lebende Wesen geboren worden. Wir sind geboren, um wieder neu geboren zu werden, und immer und immer wieder geboren zu werden.