Claude Durix · Wien 1996

Im 6. Jahrhundert gab es einen palästinensischen christlichen Mönch, der eine kleine Gemeinschaft von Klostermönchen in der Wüste von Gaza leitete. Dieses schwierige Gebiet an der Grenze zu Ägypten und in der Verlängerung der Sinaihalbinsel, in dem in der Vergangenheit so viele spirituelle Vorgänge sich ereignet haben, ist heute dem palästinensischen Staat rückgegliedert. Es ist und ist immer gewesen der Schauplatz blutiger Auseinandersetzungen, und es hat die größten Schwierigkeiten, sein wirt-schaftliches und politisches Gleichgewicht zu finden. Im 6. Jahrhundert war es dennoch ein Zentrum christlicher Spiritualität, von dem uns bewegende Zeugnisse ge-blieben sind.

Dorothée von Gaza hatte in seinem Kloster eine Regel vorgeschrieben, die die Mönche anhielt, alle sechs Stunden ihre Beschäftigungen zu unterbrechen, um ihr Gewissen zu erforschen. Er meinte, einmal täglich wie in den meisten anderen Klöstern, sei nicht ausreichend.

Kommen die Schwierigkeiten unserer modernen Welt nicht oft daher, daß wir uns nicht die Zeit nehmen wollen, uns regelmäßig in Frage zu stellen? Haben wir nicht eine gewisse Trägheit, uns ausreichend zu befragen, wer wir sind und was wir tun? Sind wir nicht mehr oder minder zustimmende Opfer einer Routine, die sich in unserem Leben eingerichtet hat, ohne daß wir uns davor wirklich in acht nehmen, und die schließlich den Sinn unserer Interdependenzen und unsere Suche nach Einheit mit dem Universum zerstört?

Wir haben wohl verstanden, daß eine solche Haltung des Infragestellen der Verhaltensweisen und der Politik für ein entwickeltes Land unbedingt notwendig ist. In einigen Ländern hat man diese Korrekturen, die wir in den letzten Jahren miterlebt haben, die manchmal zerrüttend und ungeschickt, jedoch unvermeidlich waren, „Perestroika“ genannt. Aber wir haben es alle notwendig, unser Gewissen sehr oft zu erforschen, und das nicht nur für die Politik unseres Landes, sondern vor allem für un-ser persönliches Leben, unser Familienleben, unser spirituelles Leben…Ja, alle sechs Stunden, so wie es Dorothée von Gaza angeregt hat, das ist nicht zuviel!

Die Praxis des Zen ist ein gutes Mittel, dieses unbedingt notwendige Innehalten in-mitten des Wirbel des Lebens und diese Suche nach unserem vergessenen „Selbst“, das unter den Zwängen einer erbarmungslosen Gesellschaft erstickt ist, in uns selbst, in unserem Körper, in unserer Atmung, in unserem Geisteszustand zu verwirklichen. Das ist eine ständige „Perestroika“, ein neues Aufbauen der Lebenskräfte in uns selbst, eine ständige Erneuerung unserer Lebensenergie, die wir Tag für Tag verwirklichen müssen. Wenn ich es wagen darf, würde ich sogar sagen, daß die Anweisungen von Dorothée von Gaza in unserer Zeit ungenügend sind: jede Stunde, jede Minute, jede Sekunde sollten wir uns in Frage stellen.