Claude Durix · Wien 1998
Jedes Mal, wenn Dôgen vom Sein spricht, legt er Wert darauf, auf dessen Einheit mit der Zeit hinzuweisen.

So schreibt er immer U-ji, das wir mit Sein-Zeit übersetzen, mit einem Bindestrich.

“Betrachtet die Zeit nicht einfach als etwas das vergeht, sagt er, denkt nicht, dass dies ihre einzige Funktion ist, zu vergehen… Jedes Wesen in der ganzen Welt ist eine besondere Zeit in einem einzigen Kontinuum. Und weil das Sein von der Zeit ist, bin ich meine Sein-Zeit.“

In der Zeit, in der wir jetzt leben, achtet man etwas mehr auf die Zeit, weil wir an einen besonderen Punkt der Art und Weise, wie wir sie messen, gelangt sind. Da unser Kalender von Zeitpunkten bestimmt ist, die von der christlichen Tradition vorgegeben werden, befinden wir uns also am Ende des zweiten Millenniums nach der Geburt Christi. Aber man ist sich gar nicht sicher, ob Christus im Jahre 0 unserer Berechnung geboren ist: Die Historiker sagen jetzt, dass es 7 oder 4 Jahre vor 0 war! Wie auch immer, schon vor tausend Jahren wurden vor der Jahrtausendwende fürchterliche Katastrophen vorhergesagt, die dann nicht eingetroffen sind. Jetzt, obwohl wir uns damit gerühmt haben seit langem vor Aberglauben gefeit zu sein, versetzen uns die Propheten des Unglücks mit dem was im Jahr 2000 passieren soll in Schrecken. Ein berühmter französischer Modeschöpfer macht mit größtem Ernst genaue Angaben: am 1. Jänner 2000 soll angeblich eine sowjetische Raumstation auf Paris fallen und es damit in Grund und Boden zerstören. Also empfiehlt er allen, die es vermögen, sich an diesem Tag nicht dort aufzuhalten. Auch von Nostradamus findet man schwer verständliche Texte, die man speziell so übersetzt, dass sie diese Vorhersage bestätigen. Aber die Moslems von Paris, die dann das Jahr 1420 der Hedschra schreiben, werden sie verschont bleiben? Und die Juden: 5761. Und die Japaner: 10. Jahr der Heisei-Ära. Und für all die anderen, mit denen wir nicht den selben Kalender teilen, was wird da an unserem 1. Jänner 2000 passieren? Für die Computer spricht man vom Bogue (Crash) des Jahres 2000, dass sie alle in Unordnung geraten werden; also Achtung, steigen wir in kein Flugzeug und in keinen Aufzug in dieser Nacht vom 31. Dezember 1999 auf den 1. Jänner 2000!

Aber was wäre, wie Dôgen es empfiehlt, wenn wir aufhören, die Zeit nur als etwas zu betrachten, das vergeht. Wenn wir aufhören, die Zeit so zu betrachten wie einen anonymen Zug, der vor unseren Augen vorbeirast, dessen Passagiere wir nicht einmal wahrnehmen können, von dem wir die meiste Zeit nicht wissen, woher er kommt und wohin er fährt. Wenn wir uns auch für die Menschen, die Passagiere in diesem Zug der Zeit, die vergeht, interessieren, in ihrer Dynamik, in ihrer Ganzheit, das heißt in der Zeit, in der sie leben?

Die Sein-Zeit, mit dem Bindestrich, der verbindet, der vereint, ist wirklich eine große Entdeckung. Eine Entdeckung, die sich uns fortgesetzt offenbart, Tag für Tag, in einer bemerkenswerten Kontinuität. “O Zeit, unterbreche deinen Flug…“, sagte Lamartine, der romantische Dichter, der versuchte, seine vergangenen und entschwundenen Lieben, seine entwichenen Leidenschaften wiederzufinden. Aber in seiner Sein-Zeit, für ihn vielleicht in Form der Poesie, konnte er eine verlorene Einheit wiederfinden.

So sind Leben und Tod in Verbindung mit unserer Sein-Zeit nicht mehr getrennte und zufällige Ereignisse. “Das Leben“, sagt Dôgen weiter, “ist das Absolute der Existenz mit seiner ihm eigenen Zeit, einer Vergangenheit und einer Zukunft… Das Ende des Lebens ist auch das Absolute der Existenz, mit seiner ihm eigenen Zeit, einer Vergangenheit und einer Zukunft.“

“Shindareba kossô ikitaré“ sagt ein japanisches Sprichwort: “Nur durch den Tod tritt man in das Leben ein.“ Das ist letztendlich der tiefere Sinn unserer Sein-Zeit. Das Leben, der Tod sind nur mehr Markierungen auf der Absolutheit einer Strecke ohne Grenzen.

In der Praxis des Zazen leben wir wirklich in der Absolutheit unserer Existenz, in unserer Sein-Zeit.