Claude Durix · Wien 1998
Koans sind Rätsel, die Zen-Meister früher ihren Schülern aufgaben, um ihnen zu verstehen zu geben, daß intellektuelle Schlußfolgerungen nicht ausreichen, um die Probleme des Lebens zu lösen, daß man im Gegenteil den intuitiven Fähigkeiten vertrauen und die Demut des Herzens bewahren soll.
Geh deinen Weg ohne dich um den Anfangs- und den Endpunkt zu kümmern“ sagte Meister Eckhart im XIV. Jahrhundert, und er fügte hinzu : „Lebe ohne Warum“. Sengoku Roshi, mein Zen-Meister, sagte, das sei das schönste aller Koans.
Es ist wahr, daß wir uns normalerweise um die Zukunft unserer Kinder, unserer Länder, unserer Lieben, uns um die Bewahrung unserer wesentlichen Werte Sorgen machen. Es ist wahr, daß wir immer, und meistens zurecht, die Ursache der Ereignisse in unserem Leben herausfinden wollen. Und unter gewissen Umständen können diese berechtigten Sorgen übertrieben werden, Ängste hervorrufen, Verzweiflung, Lebensschwierigkeiten nach sich ziehen und zu extremen Situationen führen, vor allem bei Jugendlichen, die allzuoft selbstmord- oder drogengefährdet sind.
Meister Eckhart sagt uns, daß man nicht immer nach dem Warum der Dinge suchen muß, er sagt uns, daß, wenn wir wirklich ein Leben aus dem Geist leben wollen, wir aufhören müssen, uns zuviele Fragen zu stellen.
Das heißt nicht, daß wir den Leiden der Welt gegenüber gleichgültig bleiben sollen. Das heißt nicht, daß wir uns zurückziehen vor dem, was um uns herum vor sich geht, uns in eine Art ruhigen Elfenbeinturm flüchten, in dem wir auf wunderbare Weise vor allen Gefahren bewahrt wären. „Ohne Warum“ zu leben heißt nicht, mit Mitmenschen in Not nicht solidarisch zu sein. Wir sind nicht aufgerufen, uns gefällig in einer Art Neo-Quietismus einzurichten, der eine große Versuchung in unserer schwierigen Zeit darstellt.
Diese Anleitung von Meister Eckhart finden wir in anderer Form in vielen heiligen Texten in fast allen Religionen der Menschheit wieder. Die Vögel des Himmels und die Lilien am Felde in der Bibel leben ohne Warum. „Wenn Ihr nicht werdet wie die neugeborene Kinder, werdet Ihr nicht in das Himmelreich eintreten“, sagt Christus. Der Buddha antwortet seinem Schüler, der ihn nach dem Wesentlichen seiner Lehre fragt, gar nichts: er hebt nur eine Blume zu seinem Gesicht empor, und man sagt, diese stumme Antwort sei der Ursprung des Zen.
Auch wenn die Schwierigkeiten des materiellen Lebens oft das spirituelle Leben beeinträchtigen und es manchmal sogar zu verhindern wissen, ist es dennoch gut, in regelmäßigen Abständen zu diesem Zustand wiedergefundener Unschuld zurückzukehren, ohne den wir auf dem Weg nicht voranschreiten können.
Das ist genau das, was Zen uns lehrt, wenn es uns einlädt, diese fundamentale Haltung des Körpers in seinem Aufrechtsein, das die Bestimmung des Menschen darstellt, diese ursprüngliche Atmung, so wie sie bei unserer Geburt begonnen hat, und diese innere Stille, in der unsere wahre Natur offenbar wird, die reine Quelle unseres Wesens, regelmäßig wiederzufinden.